Ein mysteriöses Schachgenie

Ein mysteriöses Schachgenie

„Ein Schachkomet, der nur kurz aufleuchtete und dann im Nebel der Zeit verschwand“, so schrieb Ulrich Geilmann über dieses mysteriöse Schachgenie. 

Er konnte angeblich weder lesen noch schreiben und kannte so gut wie keine Eröffnungstheorie. Trotzdem war er einer der besten Schachspieler seiner Zeit. Xenia Bayer beleuchtet in der 5. Folge ihrer Reihe "Schachgenies" das denkwürdige Auftauchen und Verschwinden eines rätselhaften Mannes. 

Link zum Podcast (zum Anhören): 

👉 Schachgeflüster by Chess Tigers: Ein mysteriöses Schachgenie | mit Xenia Bayer (#214) auf Apple Podcasts

Podcast-Skript (zum Lesen): 

Hallo liebe Zuhörer,

ich heiße Xenia Bayer und das ist mein Podcast „Schach für Kinder“!

„Ein Schachgenie, Teil 5“

Auf dem Hastingsturnier 1930 brodelte es. Eine Sensation! Ein mysteriöser Mann gewinnt alle Partien in Folge.

Die Wiener Schachzeitung 1930 berichtete:

„Das diesjährige Turnier bleibt in seiner Zusammensetzung der Tradition treu: Zehn Teilnehmer, zur Hälfte Briten, zur anderen Hälfte ausländische Meister, unter ihnen ein Attraktionsstück erster Güte. Als solches war offenbar Exweltmeister Capablanca ausersehen, der nach einjähriger Pause wieder in Hastings in die Turnierarena trat. So war es gemeint, das Schicksal -zumindest in der ersten Turnierhälfte- wollte es aber anders. An die Seite des Kubaners trat ein anderer Exote, der Inder… Wie im Vorjahre in Lüttich, so begann er auch in Hastings mit einer ununterbrochenen Siegesserie. Vier Gewinne, aber nicht gegen x-beliebige Gegner, zu seinen Opfern zählt auch Capablanca, der so auf englischem Boden zum ersten Male in seinem Leben eine Turnierniederlage erlitt. Die fünfte Runde brachte dem Inder einen Verlust gegen Winter… Sein nächster Konkurrent ist derzeit jedenfalls nicht Capablanca, sondern der holländische Champion Dr. Euwe -überraschenderweise- auch der britische Altmeister Michell. Spannung liegt über dem Turnierausgang…
Stand des Meisterturniers nach der 5. Runde: … (der Inder) 4, Dr. Euwe und Michell je 3,5; Capablanca 3, Thomas und Winter je 2,5; Menchik 2, Colle und Yates je 1,5; Tylor 1 (Punkt)“ 

Der mysteriöse Mann wird 6 aus 9 Punkten in diesem Turnier erzielen, und somit wird er Dritter hinter Max Euwe und Jose-Raul Capablanca.

Wer war der junge Mann mit einem großen weißen Turban auf dem Kopf, der plötzlich in England aus dem Nichts auftauchte?

Der junge Mann sollte mit seinem Herrn Nawab Sir Malik Umar Hayat Khan, einem indischen Diplomaten, gekommen sein. In seiner Heimat (er stammte aus Sargodha, aus dem Nordosten des heutigen Pakistans) gewann er die Allindische Schachmeisterschaft 1928. Sein Herr förderte das junge Talent und nahm ihn nach Europa mit. 

Zu dem Zeitpunkt spielte man in Indien immer noch nach den Schatrandsch-Regeln:

„Zum einen kennt das indische Schachspiel nicht den Doppelschritt des Bauern aus der Grundstellung heraus. Außerdem kann ein Bauer nicht beliebig umgewandelt werden, wenn er die letzte Reihe erreicht, sondern immer nur in die Figur, die zur Partiebeginn an dieser Linie stand. Damit wird ein Bauer nur auf dem Damen- oder Königsflügel zu einer Dame. Erreicht er die letzte Reihe zum Beispiel auf einem Springerfeld, wird er zum Springer. Auch die indische Rochade ist anders und bedeutet, dass der König einmal im Laufe der Partie einen Springerzug ausführen darf. Schließlich gewinnt man in Indien auch dann die Partie, wenn man den gegnerischen König patt setzt.“ *

---

WERBUNG: 
Ulrich Geilmann, Der indische Meister Malik Mir Sultan Khan

---

Unser junger Freund kannte die europäischen Schachregeln nicht.

Dank seines Mäzens konnte er aber seinen Mangel an theoretischem Wissen ausgleichen. Das junge Talent bekam den Schachunterricht bei den englischen Schachmeistern William Winter und Frederick Yates, die ihn auf die britische Meisterschaft 1929 vorbereiteten. Im Ramsgate wurde der unbekannte indische Champion zum Britischen Champion 1929.

Er feierte einen Turniererfolg nach dem anderen.

Auch bei zwei weiteren britischen Schachmeisterschaften in London 1932 und in Hastings 1933 triumphierte der talentierte Inder.

Im Juni 1930 nahm er an dem Scarborough Turnier als aktueller englischer Champion teil, gewann den 5. Platz und ließ alle englischen Schachspieler hinter sich.

In der 6. Runde des Turniers spielte der britische Champion gegen die erste Schachweltmeisterin Vera Menchik:

„Zwei interessante Persönlichkeiten sitzen einander gegenüber: Der Führer der Weißen ein Inder, aus dem Heimatland des Schachspiels, der im Vorjahr die Meisterschaft von Großbritannien gewonnen hat; seine Gegnerin die Damen Weltmeisterin, die erste, die das schachliche Monopol des männlichen Geschlechtes radikal durchbrochen hat. Ihr Zusammentreffen am Schachbrett stößt auf lebhaftes Interesse der Zuseher und in der Tat, es gibt bald ein wildes Handgemenge.“, schrieb die Wiener Schachzeitung.

Der Inder gewinnt diese Partie. In den berühmten „Vera-Menchik-Club“ für alle Männer, die gegen sie verlieren, schafft er diesmal nicht.

Im Sommer 1930 zu seinem 100-jährigen Jubiläum organisierte der Hamburger Schachclub eine Schacholympiade. Die britische Mannschaft trat unter der Leitung des jungen Inders an.

An der Olympiade nahmen 18 Mannschaften teil. Unter den Teilnehmern waren viele berühmte Schachspieler. Auch der damalige Weltmeister Alexander Aljechin kam mit seiner Mannschaft aus Frankreich.

In Hamburg belegte die britische Mannschaft den 8. Platz. Das indische Talent selbst erkämpfte 11 Punkte aus 17 Partien: 9 Siege, 4 Niederlagen und 4 Remis (darunter eins mit Alexander Aljechin) und gehörte zu den besten 6 Spielern!

Der indische Schachspieler wird das britische Empire auch in zwei weitere Olympiaden vertreten. 1931 in Prag erzielte er 11,5 aus 17 Punkten, sein Team landete auf dem 9. Platz. 1933 in Folkestone erkämpfte seine Mannschaft den 10. Platz. Er selber erlangte 7 aus 14 Punkten.

Er kämpfte gegen die besten Schachspieler der Welt: gegen Savielly Tartakower, den polnisch-französischen Schachmeister, gewann der junge Mann mit 6,5 zu 5,5 Punkten; gegen Salo Flohr, den tschechoslowakisch-sowjetischen Schachmeister, verlor er mit 2,5 zu 3,5.

Es wurde behauptet, dass der Indische Schachspieler weder lesen noch schreiben konnte, auch war er keiner europäischen Sprache mächtig. So wurde ihm bei den Turnieren ein Privatsekretär zur Verfügung gestellt, der für ihn die Partien aufschrieb und aus dem Englischen übersetzte. 

----
WERBUNG: 
Chess Tigers Beststeller: Überraschungspaket: 10 Schachbücher zum Niedrigpreis von 50 Euro

---

Es scheinte so, dass der junge Inder bei dem Spiel mit dem Österreicher Hans Kmoch seinen Sekretär nicht dabeihatte.  

„Beim Mannschaftsturnier in Hamburg (1930) schnitt er auch auf dem Spitzenbrett gegen die besten kontinentalen Gegner äußerst gut ab, obwohl sein offensichtlicher Mangel an einer verständlichen Sprache einige Rivalen verärgerte.

"In welcher Sprache spricht euer Champion?", rief der Österreicher Kmoch, nachdem sein drittes Remisangebot nur mit sanftem Lächeln erwidert worden war. "Schach", antwortete … (der Mannschaftsleiter), und so stellte es sich heraus, denn nach einigen Zügen musste der österreichische Meister aufgeben.“ (Edward Winter „Sultan Khan“)

Das Schachtalent war keineswegs mit den Eröffnungstheorien vertraut:

sein „…Wissen über Eröffnungen beschränkte sich auf allgemeine Grundsätze; tiefe Variantenkenntnis fehlte.“*

Bei einer Partie sah man auf dem Schachbrett folgende Stellung:

Weiß: Bauer e4 und Springer f3. Schwarz: Bauer c5.

Alle anderen Figuren standen auf ihren Plätzen.

Nichts Ungewöhnliches, wenn nicht Weiß am Zug wäre.

„Wie könnte es passieren?“, fragte man den jungen Inder.

„Ich wollte zuerst die Caro-Kann Eröffnung spielen,“ erklärte er, „danach aber entschied ich mich für Sizilianisch.“**

Bei einer anderen Partie erkundigte man sich:

„Mit diesem Zug haben sie den eigenen Läufer gesperrt. Warum?“

„Aus der Gewohnheit“, antwortete der junge Mann, „bei uns in Indien ziehen die Elefanten nicht vor den Bauern…“**

Allerdings gerieten renommierte Theoretiker in den Partien mit ihm bereits nach den ersten Zügen in eine zweifelhafte Lage.

„In manchen Partien schien er seine Gegner mit indischer Gelassenheit und großer Geduld aussitzen zu wollen. So produzierte er zum Teil überlange Partien, die die Schachspieler auch gerne Seeschlangen nennen. Wie sagt der Inder? Ungeduldig sein, heißt Würde zu verlieren.“*

In seinem Spiel spürte man etwas Neues, das ihn vom Spiel der europäischen Meister unterscheidete.  „Sein Schachstil war intuitiv. Er behandelte seine Partien eher nach Gefühl und weniger mathematisch exakt.“*

Das indische Talent erklärte: 

„Ich strebe danach, Schach so zu spielen, wie es von göttlicher Inspiration geleitet ist, und lasse mein Herz in jedem Zug sprechen.“**

„In der berühmten Partie gegen Capablanca hat …(er) genau die geschlossene Mittelspielstellung erreicht, die seinem Stil perfekt entsprochen hat: er hat brillant manövriert, Gegenangriffe unterbunden und war geduldig genug, um auf den richtigen Moment für einen Durchbruch zu warten. …(er)hat vor allem durch die Praxis gelernt, durchs Spielen, Schach studiert hat er kaum. Seine ersten Partien in England waren nicht besonders gut, aber er hat unglaublich schnell gelernt. Das zeigt, wie talentiert er war.“ (“Sultan Khan: Ein Interview mit Daniel King“, chessbase.com)

„…Innerhalb von knapp anderthalb Jahren hatte er unglaubliche Fortschritte gemacht.“* Nach drei Jahren wurde „er unstreitbar ein Schachmeister mit einem Spielverständnis auf Weltklasseniveau mit überragenden Turniererfolgen.“*

„Die Tatsache, dass es ihm auch unter solchen Bedingungen gelungen ist, ein Champion zu werden, zeigt ein Schachgenie, das nichts weniger als außergewöhnlich ist“, schrieb Capablanca Jahre nach dem Treffen mit dem jungen Inder am Schachbrett. 

1933 kehrte das Schachtalent mit seinem Herrn in seine Heimat zurück. 

In den 1950-er Jahren las man in den Zeitungen über ihn:

"Pakistan. Es ist in der Tat eine gute Nachricht zu hören, dass der großartige Spieler …, der vor dem Krieg innerhalb von nur vier Jahren eine solche Spur im europäischen Schach hinterlassen hat, noch am Leben ist und offenbar Interesse am Schach hat. Gemäß einem Bericht findet in Pakistan ein Turnier statt, um vier Spieler auszuwählen, die ihn in einem Finalturnier treffen sollen. Man hofft, dass dies lediglich die Ouvertüre zur Rückkehr eines so begabten Meisters auf die internationale Bühne ist.“

Die Schachwelt hörte seitdem nichts über ihn.

Vishwanatan Anand, der 15. Schachweltmeister aus Indien, schrieb:

„Er sollte Inspiration für Schachspieler aus ganz Indien und dem Subkontinent sein, aber auch für jeden, der es als Außenseiter schwer hat. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen, aber spielte gegen die Besten der Welt und zeigte, dass er ihnen ebenbürtig ist.“

Daniel King, der englische Schachgroßmeister: „Obwohl …(er) Schwächen in der Eröffnung hatte, konnte er das durch seine außergewöhnlichen Konzentrationsfähigkeiten, seinen Kampfgeist und seine hervorragende Endspieltechnik kompensieren. Diese Fähigkeiten können einen weit bringen.“

Im Februar 2024 (58 Jahre nach seinem Tod) hat der FIDE (Weltschachverband) ihm den Titel eines Ehrengroßmeisters verliehen. Der stärkste Schachmeister seiner Zeit aus Asien wurde zum ersten pakistanischen Großmeister.

„Ein Schachkomet, der nur kurz aufleuchtete und dann im Nebel der Zeit verschwand“*, das Schachgenie hieß Malik Mir Sultan Khan.

Bis zum nächsten Mal!

Eure Xenia Bayer

Quellen: 

*Ulrich Geilmann “Der indische Meister Malik Mir Sultan Khan - Leben und Wirken!“
** Мацукевич А.А. “Комета Султан-Хана“